11.30 Uhr Berlin Kollwitzmarkt und das Haar sitzt
Wenn die Freitagnacht gut überstanden ist, und der Körper im Einklang mit der Welt steht, die Sonne scheint, und der neue Tag lockt, dann ist es durchaus eine gute Idee, am Sonnabendmorgen auf den Kollwitzmarkt zu gehen. Fünf Minuten sind es zu dieser Begegnungsstätte, die bedauerlicherweise mit Erfolg in jedem Touristenführer erwähnt wird. Locker und entspannt sollten Sie sein, wenn Sie sich auf diesen Markt begeben, so halte ich es zumindest, und lebe sehr gut mit dieser Devise, und im Zweifel bleibe ich zu Hause.
Zunächst geht es los mit einem Kaffee auf die Hand, am Ende der Husemannstraße, das mache ich hier immer so. Voll ist es wieder, die Massen schieben sich durch die Gänge, ein grauenhaftes Gedränge an den Ständen. Diese vielen Kinder hier, die bescheuerten Eltern da, die ihren Kindern erlauben, den Kinderwagen selbst zu schieben. Ihre Kinder können kaum laufen und lernen ihre ersten selbständigen Schritte hier auf dem Markt. Versperren den ganzen Weg und bewegen sich plärrend mit 0,04 km/h fort. Die Kinder, die schon halbwegs vernünftig laufen können, finden ihre Herausforderung, indem sie mit dem Fahrrad kommen. Einige haben Stützräder oder diese Holzräder, auf denen mit den Füßen Schwung geholt wird. Im Zick-Zack-Kurs geht es über den Markt, ganz egal wohin.
Ach, ist das schön hier, wenn ich nicht so locker und entspannt wäre, dann hätte ich jetzt schon wieder die Nase voll. Aber so freue ich mich über die vielen Kinderlein, die unser Land doch so dringend braucht. Freue mich an den vielen strahlenden Familien, weil sie sich freuen, weil es ihnen gut geht. „Na, du“, sage ich zu meinem kleinen zukünftigen Rentenzahler, als er mir mit seinem blöden Fahrrad mit Schmackes in die Hacken kracht. Strahle ihn an, und er strahlt mich an und seine hübsche Mutter entschuldigt sich für ihn und strahlt mich ebenfalls an. Und für dieses bezaubernde Strahlen der Mutter darf der Kleine als Zugabe glatt noch über meine Zehen fahren. Angesichts der ganzen strahlenden Menschen versuche ich mir eine witzige Geschichte einfallen zu lassen, in der das Wort Tschernobyl ganz unverfänglich klingt, aber es gelingt mir nicht und so lasse ich es sein.
Schließlich trifft die entzückende M. ein und verlangt ebenfalls nach einem Kaffee, ohne dabei aber zu vergessen, auf ihren unmäßigen Appetit aufmerksam zu machen. Fehlt nur noch die C., die zum Glück nur wenige Minuten später erscheint und der Futterzufuhr der ungeduldigen M. nun nichts mehr im Weg steht, mal abgesehen von den Aberdutzenden anderen Marktbesuchern.
Die C. erscheint mit ihrer neuen Sonnenbrille, sehr Siebziger, sehr große Gläser, sehr schick, sehr cool. „Du siehst ja wieder super aus“, säusele ich ihr bei unserer Begrüßung ins rechte und linke Ohr. Dabei wird mir bewusst, dass ich gar keine Sonnenbrille habe, und ich mich deswegen eigentlich scheiße fühlen müsste, wenn ich heute nicht so locker und entspannt wäre. „Weißwürste!“, die M. einigt uns auf Weißwürste.
Ja, Weißwürste. Nur wenige Meter entfernt ist dieser Stand, der sehr leckere frische Weißwürste anbietet. Natürlich mit Brezel und in Kombination mit einem Weizenbier, anders macht das keinen Sinn. Die M. benötigt noch Gemüse und etwas Fisch, die C. möchte eigentlich nur ein bisschen herumschauen, und ich mache mich auf den Weg, mir frische Minze zu erwerben und die leckeren griechischen Pasten, die ich am Wochenende immer brauche. „Milano“ und „Köstliches Gekicher“ kaufe ich regelmäßig, dazu noch ein Milchfladen, und das war´s. Der Stand mit der frischen Minze ist ganz am Rande, und so passieren wir den Stand „Currywurst und Champus“, der mich unglaublich aufregen würde, wenn mich meine Locker- und Entspanntheit nicht über den Markt schweben ließe. Aber er ist immer voll, dieser blöde Stand und man trifft auf den Typ Mensch, den man auch bei Gosch auf Sylt vermuten würde. Und alle essen Currywurst mit Pommes, wobei die Currywurstsoße eben mit Champagner angemengt wurde. Wer will, kann natürlich auch noch ein Glas so dazu trinken. Auf der gleichen Seite, noch ein wenig weiter, ist ein ähnliches Klientel zu finden. Dort gibt es nämlich Austern mit Champus. Sechs Stück für 9,50 Euro. Da steht sie natürlich wieder, diese unangenehm joviale Truppe, die dort jeden Sonnabend zu stehen pflegt, wobei der eine Arsch tatsächlich jeden Sonnabend den gleichen Anzug trägt. Über allen baumelt der große Traum vom Haus in Kampen. Aber was soll das auch, jeder so wie es ihm gefällt, hauptsache die Sonne scheint schön. Schön ja auch, wenn man Ziele im Leben hat.
Die M. verzehrt noch ein Butterfischbrötchen, während sie sich über einen süßen Abschluss des Markttages Gedanken macht. „Wir können noch Törtchen essen.“, ja, Törtchen. Und weil die Welt so klein ist, treffen wir noch auf Yuppie R., der sichtbar genervt ist, gar nicht locker und entspannt. Der Kollwitzmarkt nervt, die ganzen bekloppten Leute hier, die vielen Touristen, die die ganze Zeit im Weg stehen und so tun, als hätten sie zum ersten mal grüne Paprika gesehen und zum Kampf gegen das Vergessen auch noch ein Foto davon schießen. Es sei völlig unglaublich, ganz schlimm.
Es ist hier so abartig unglaublich schlimm, dass der R. sich erstmal eine Wohnung gekauft hat, 140 Quadratmeter am Kollwitzplatz. Auch der R. ist einem Verzehr von Törtchen zugeneigt und möchte eigentlich zur Pâtisserie Albrecht. Schließlich entscheiden wir uns dazu, hier auf dem Markt zu bleiben, denn zu Albrecht können wir auch noch später oder morgen, und die Törtchen von Lautz sind ebenfalls sehr gut und viel billiger. Ich bugsiere mich zur C., die in einer Fachsimpelei über Salz vertieft ist, was anscheinend wirklich ein Steckenpferd von ihr ist. Sie kauft ein Glas handgerührten Lemon Curd und eine Seife für Harmonie und ihr inneres Gleichgewicht. Trotz der vielen tollen weiteren Angebote lässt sie sich widerstandslos zum Törtchenstand ziehen.
„Alles Idioten, alles Idioten“, höre ich eine Stimme hinter mir und die dazugehörige Person drängelt sich durch die Massen. Er hat die Nerven verloren, denke ich und überlege, ob er mit „Idioten“ etwa uns gemeint haben könnte. Mir wird warm und ich fange an zu schwitzen. „Du bist doch wieder viel zu warm angezogen“, mustert mich Yuppie R. „T-Shirt, Oberhemd, V-Ausschnitt Pullover und einen Cordanzug, das darf doch echt nicht wahr sein. Und überhaupt, sag mal, hast Du eigentlich keine Sonnenbrille?“ Plötzlich wird es ganz still auf dem Markt. Nur: „Ab jetzt: zwei Ananas zum Preis von ein...“, unterbrochen von einem: „Jetzt halt mal die Schnauze“, ist noch kurz zu vernehmen. Dann spricht tatsächlich niemand mehr, einige schütteln ihre Köpfe. Mir wird immer wärmer, regelrecht heiß und alle starren mich an. „Du hast gegen die Regeln verstoßen Junge. Du hast weniger Zeit im Bad verbracht als auf dem Markt, du trägst keine Sonnenbrille, du hast kein Kind, du schwitzt. Dazu bist du auch kein Tourist mehr und hättest es besser wissen müssen“, sagt Humphrey Bogart locker am Törtchenstand gelehnt. „Schau Dich an, was ist nur aus dir geworden. Ich kann dir nicht mehr helfen“, sagt Bogart und zündet sich stilsicher eine Zigarette an. „Entmannt ihn“, schreit eine kleine dicke Frau mit roten kurzen Haaren aus der ersten Reihe.
„Kaffee!“, vernehme ich es leise an meinem Ohr, und spüre ein Klopfen an meiner Schulter. Die Rollläden sind aufgezogen, und die Sonne scheint mir ins Gesicht. „Komm, steh auf und bring mir Kaffee und dann gehen wir auf den Markt, ja, schau, wie schön das Wetter ist“, flüstert meine ständige Begleiterin. „Ohne Sonnenbrille, gehe ich hier nirgends mehr hin“, soviel ist mal sicher!