Montag, 8. August 2005

Bathroom

„Erzählt doch mal eine peinliche Geschichte“, so die Aufforderung einer Freundin bei einem gemeinsamen Beisammensein in einem Kaffee am Helmholtzplatz, „natürlich muss es sich in der Geschichte nicht unbedingt um selbstwiderfahrene Peinlichkeiten handeln, auch die Peinlichkeiten anderer werden gerne vernommen, wir sind ja alle schließlich sehr diskret.“

„Also, ich habe letztlich von der F., der neuen Freundin meines Bruders eine Geschichte gehört, die wohl ihr persönliches Trauma ist. Sie ist zwar schon ein wenig her, aber gut“, ergriff der M. das Wort.

„Folgendes: Die Schule, die sie besuchte, eröffnete im Rahmen eines Austauschprogramms mit einer Schule in England die Möglichkeit für eine bestimmte Zeit in einer Gastfamilie zu wohnen. Ihre Eltern bestimmten, dass es für ihre bis dato schüchterne und zurückhaltende Tochter sicherlich gut für die Entwicklung sei, während der Sommerferien vier Wochen in einer Familie in England zu verbringen. Sie hatte übrigens gerade die achte Klasse verlassen.

Ihre Gasteltern unterhielten wohl ein eindrucksvolles Anwesen vor den Toren Londons, welches die Schüchternheit der F. jedoch in ungeahnte Höhe trieb. Nach einer kurzen Vorstellung und der Inaussichtstellung eines sofort einzunehmenden Abendessens mit der gesamten Familie, ließ die F., getrieben durch ein dringendes Bedürfnis, nach dem Bathroom fragen. Die Gasteltern wiesen ihr den Weg zu dieser Örtlichkeit, der auf verschlungenen Pfaden durch das Schloss führte. Die vielen großen Zimmer wirkten nicht minder bedrückend auf die kleine F. und die Beschreibung, wie sie von dort in den Speisesaal fände, in dem die versammelte Familie gespannt auf sie warten würde, war nicht minder verwirrend.
Die Führung durch ein Mitglied des Hauspersonals lehnte sie jedoch ab, schließlich wollte sie keine Umstände bereiten. Vor Ort fand sie dann aber zu ihrem Leidwesen lediglich Waschbecken und eine Dusche vor. Für eine Schilderung ihrer eigentlichen Bedürfnisse, zumal in Englisch, fehlte ihr der Mut und in Anbetracht des Druckes und der vielen Wege, auch die Zeit.

In ihrer Verzweiflung nahm die F. mit dem Nächstliegenden vorlieb, dem Waschbecken. Durch komplizierte Verrenkungen zweckentfremdete sie also die viktorianische Waschvorrichtung, was das edle Waschbecken wohl derart entsetzte und gerade in alten Schlössern scheinen Waschbecken hinsichtlich ihrer Nutzung sehr kompromisslos zu sein, dass es sich ohne Ankündigung entschloss unter lautem Getöse aus der Wand zu reißen.
Die F., das zerstörte Waschbecken auf dem Boden verteilt, angeknackste Fliesen, die Hosen in den Knien, überlegte nicht lange und wurde ohnmächtig.
Weiter waren ihr keine Einzelheiten zu entlocken. Wie und wann die Familie und/oder das Personal zum Bathroom eilten, angelockt vom Krach oder der langen Wartezeit, ist nicht bekannt. Ob sie zwischendurch im Badezimmer wieder zu sich kam, ist nicht geklärt. Letztlich bestand sie aber darauf sofort wieder nach Hause zu fahren. Warum sie nicht die Dusche verwendete, erklärte sie damit, dass es doch wohl komisch gewesen wäre kurz vor dem Essen Duschgeräusche zu verursachen ohne aber tatsächlich zu duschen.

Zu einem späteren Zeitpunkt hatte ihr London aber sehr gut gefallen.

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